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GERALD ENZINGER

GERALD ENZINGER

Der Mensch Lewis Hamilton

Es ist der schnellste Sport der Welt - auch wenn es um Urteile geht. Samstag war Lewis Hamilton der Depp, Sonntag der Held. Und weil die Formel 1 so ist, ist der Hockenheim-Sieger bei Mercedes GP richtig. Denn gerade Außerirdische brauchen Erdung.
Von null auf hundert in 2,6 Sekunden. 
Von null auf 200 km/h in 4,6 Sekunden. 
Von null auf 300 kmh in 10,6 Sekunden. 
Von Held auf Depp in 0,01 Sekunden. 

Hockenheim hat uns einmal mehr gezeigt, wie gehetzt die Formel 1 ist. In jederlei Hinsicht. Auch wenn der Grand-Prix-Sport zum Glück immer noch im Ton zwar lauter, aber nicht rauer ist als etwa im Fußball. Selbst wenn deutsche Mercedes-Fans jubeln und toben, wenn der Deutsche Sebastian Vettel im Ferrari beim gemeinsamen Heim-Grand-Prix ausfällt und dafür der Engländer Lewis Hamilton im "deutschen" (naja...) Mercedes gewinnt. Beide wiederum bekommen zu spüren, dass das Wort Meinungsumschwung nicht aus dem Skisport kommt, und sich gerade in der Formel 1 schnell verbreitet.
Bis Sonntag kurz vor halb fünf war Vettel der Held und der sichere Weltmeister 2018 in den Augen der Berichterstatter und sein Konkurrent zu fehlerhaft trotz aller Genialität.
Keine volle Sekunde später war alles genau so eindeutig zugeordnet, nur die Rollen waren vertauscht. Und plötzlich galt für Vettel das, was eben noch typisch Hamilton war.

Jenes "typisch Hamilton", das uns daran erinnert, wie ihn sein langjähriger Feind und Freund Nico Rosberg noch am Samstag bezeichnet hatte: "Lewis macht mir Sorgen. Ich habe nie so eine Körpersprache bei ihm gesehen. Wir haben es schon in Silverstone gesehen und nun wieder: so etwas wie Ungläubigkeit. Natürlich ist sein Aus im Qualifying hart, aber diese Körpersprache ist neu, ich habe das noch nie bei ihm erlebt. Für ihn ist das ein gewaltiger Rückschlag, Vettel dagegen ist auf der Strecke unterwegs, sein Auto scheint zu fliegen und für Lewis wird das am Sonntag ein ganz schwieriger Tag."

Genau 24 Stunden später hätte man all das wieder sagen können - nur diesmal war Vettel der Loser und Hamilton der Held und der gefühlt schon "fast sichere Weltmeister".
(Was ja sowieso in beiden Fällen eine absurde Einschätzung ist - denn wir sind ja noch nicht mal in der Sommerpause).

Es sind zwei Menschen, auf die diese unsagbaren und so wandelbaren Kräfte von außen einwirken, zwei immer noch junge, wenngleich außergewöhnliche Wesen. Klar, im Fußball ist es in WM-Zeiten auch brutal, wie viel auf die Spieler einströmt, und es ist noch schlimmer, da das Wohl und Weh von ganzen Nationen und ganzen Menschenleben von ihnen abhängt. Die Chance, Weltmeister zu werden, kommt im Fußball viel seltener als in der Formel 1.

Doch man kann auch argumentieren, dass es im Fußball am Ende doch um Mehrere geht, hier im Grand-Prix-Sport aber dreht sich eigentlich alles nur um zwei Gegenspieler: Hier Vettel, dort Hamilton.

Und wie im Rennsport-Klassiker "Le Mans" fährt in diesem Duell der eher biedere Deutsche für das divenhafte Ferrari-Team, die einsame Diva angelsächsischer Herkunft aber für ein sehr strukturiertes deutsches Team.

Und beide werden das noch länger so tun. Vettel bei Ferrari - einem Team, bei dem seit einigen Tagen alle Karten neu gemischt sind, nach der Tragödie rund um den charismatischen und jahrelang allgegenwärtigen Überboss Sergio Marchionne.

Und Hamilton hat eben bei Mercedes verlängert nach zähem Ringen um jede Sekunde vertraglich festgelegter PR-Arbeit. Bis zu 45 Millionen Euro kann er im Ideallfall künftig pro Jahr kassieren. Trotzdem kam er am Tag danach mit einer Kapuze ins Fahrerlager und hielt sich die Hand vors Gesicht, damit ihn die Fotografen im wahrsten Sinn des Wortes nicht zu Gesicht bekamen - eine nicht zum ersten Mal praktizierte Unhöflichkeit, die die Kollegen des Bildes nicht zu Unrecht empört.

Und doch zeigen gerade diese Momente den wahren Lewis Hamilton: einen extrem schüchternen Menschen.
Einen Weltstar, der auf seinem eigenen Planeten gefangen ist.
Vettel? Hängt in den wenigen freien Minuten des Rennstrecken-Tages meist mit Familie und Freunden rum oder ist bei seinen Ingenieuren, mit denen auf Italienisch oft der Schmäh rennt. Oder er beobachtet wie besessen Rahmenrennen oder Aufzeichnungen des eigenen Trainings, studiert jede Kurve jedes Konkurrenten.

Hamilton dagegen verkriecht sich fast immer im ersten Stock der Mercedes-Hospitality, wo nur mehr Freunde und Geschäftspartner des Teams hindürfen und wo österreichische Spezialitäten serviert werden. An der Wand hängen Bilder von Toto Wolff als Rennfahrer, von Niki Lauda oder Lewis Hamilton, Bilder, die von großen Triumphen berichten.
Hamilton sitzt meist alleine an einem großen, runden Tisch - und sein einziger Halt ist sein Smartphone, mit dem er Tag und Nacht verbringt. Die Familie bringt er kaum noch mit, im Gegensatz zu den ersten Jahren bei McLaren, auch Freunde sind selten geworden. Freundinnen erst recht - würde er eine mitbringen, wäre die Jagd auf ihn (und auf sie) eine noch gnadenlosere.

Er ist ein außergewöhnlicher Mensch, in jeder Hinsicht.
Außerirdisch oft in dem, was er tut - und scheinbar immer noch auf der Suche nach Erdung. Er ist vieles erst auf den zweiten Blick: etwa ein Gewohnheitstier, bei all seiner inneren Unruhe.
Nur zwei Teams in 12 Saisonen Fomel 1, bald 14. Er braucht vertraute Leute um sich, Niki, Toto, seine Physiotherapeutin. Nicht dass er viel mit diesen Menschen redet, wenn sie in der Nähe sind; nicht dass er sie  manchmal zu ignorieren scheint, sind sie für ihn doch so etwas wie Anker.

Man kann Lewis Hamilton als Mensch in einer einzigen Auffälligkeit erklären:

Er hat jetzt monatelang eigentlich nur darum gestritten, wie wenig Kontakt er zu Fans haben muss, sprich wie wenige PR-Auftritte er zu machen hat.
Und in all diesen Monaten hat man kaum einen Menschen gesehen, der sich so sehr freut, wenn sich ein kleines Kind verirrt und mehr oder weniger zufällig seinen Weg kreuzt und völlig fassungslos zu ihm aufsieht. Dann spielt er mit diesem Kind, ist aufmerksam, lustig und unglaublich unkompliziert.

Und genau in dieser Zerrissenheit, die ihn in so vielen Bereichen des Lebens prägt, lebt er.
Deshalb war es immer klar, dass er nicht mehr zu einem anderen Team wechseln wird.
Mercedes ist seine Heimat, auch wenn er nie zugeben würde, so etwas zu brauchen in seinem so rastlosen Leben zwischen Los Angeles, London und der Leere, in der er oft wie ein einsamer Gefangener wirkt.

Mercedes und Hamilton, das passt, da sich Gegensätze anziehen.
Hamilton und Ferrari wäre eine Überdosis Emotion und Extravaganz, an der wohl beide Seiten zu Grunde gehen würden.
Hamilton bleibt dem Stern treu - seit 2007 hatte er nie einen anderen Antrieb im Berufs-Alltag.Hamilton bleibt dem Stern treu - seit 2007 hatte er nie einen anderen Antrieb im Berufs-Alltag.
Wolff gibt ihm Freiheit, die er braucht - und Bottas zieht ihn nie runter, im Gegensatz zu Psycho-Experten Rosberg.Wolff gibt ihm Freiheit, die er braucht - und Bottas zieht ihn nie runter, im Gegensatz zu Psycho-Experten Rosberg.
Hockenheim war sein 44. Sieg mit der Nummer 44 - eigentlich eine unfassbare Bilanz.Hockenheim war sein 44. Sieg mit der Nummer 44 - eigentlich eine unfassbare Bilanz.
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