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GERALD ENZINGER ÜBER DAS FORMEL-1-FINALE

GERALD ENZINGER ÜBER DAS FORMEL-1-FINALE

MAXimale (Un)ruhe

Max Verstappen vs. Lewis Hamilton. Wir sind Zeitzeugen eines der größten Formel-1-Duelle aller Zeiten. Im Finale beginnt die WM NICHT wieder bei Null, denn der 9:8-Siegevorsprung von Verstappen kann noch allesentscheidend sein. Und doch liegen die Nerven bei Red Bull um eine Spur mehr blank als bei Mercedes. Ein Dreieck der Unruhe droht Max Verstappen aus der Balance zu bringen. Doch gerade der fliegende Holländer geht abseits der Strecke erstaunlich cool und mittig mit dem ganz normalen Wahnsinn um. Gedanken zur spektakulärsten aller Formel-1-Entscheidungen.
Und wenn du glaubst, verrückter geht nicht mehr, dann kommt von irgendwo ein Schumi her.

Der Abflug von Mick Schumacher hat in Saudi Arabien aus einem Rennen, das erstaunlich ruhig war, einen Nonstop-Nonsens-Thriller gemacht, eine Mischung aus Klamauk und Krimi, wie sie nicht einmal Quentin Tarantino mixen könnte.

Am Ende steht es nun im WM-Duell 369,5 : 369,5.
Der weltweit vermeldete Irrtum, die WM würde nun wieder bei Null beginnen, ist freilich gefährlich inkorrekt. Denn Verstappen hat neun Siege, Hamilton nur acht. Machen die beiden einen auf Prost-Senna und fliegen sie gemeinsam ab, dann wäre – Stand jetzt – Max Verstappen der Sieger nach beidseitigem K.o. Das macht die Ausgangslage für Mercedes höchstkompliziert. Denn ein Ausfall von Hamilton oder ein schwerwiegender Fehler bedeutet wohl das Aus im WM-Kampf.

Es ist eine komplexe Situation, und eine unübersichtliche. Daher erlaube ich mir hier einfach mal ein paar Gedanken der Stunde festzuhalten, ohne zu sehr zu werten. Das überlasse ich Ihnen, liebe fachkundige Leser. Zumal sich einige Gedankenzüge auch begegnen, weil sie nicht zwingend in die gleiche Richtung fahren.

1.) Verstappen ist Favorit.
Max fährt eine grandiose Saison. Punkt. Da gibt es nichts zu relativieren. Seine Leistungen sind unfassbar konstant, Fehler passieren höchstselten und nur im absoluten Grenzbereich. Er hat gleich viele Punkte wie Hamilton, obwohl er bislang mehr Pech hatte: in Baku, in Silverstone, in Budapest.

2.) Hamilton ist Favorit, irgendwie auch.
Samstag vor dem Qualifikationsrennen in Sao Paulo und in den Minuten, nachdem Lewis auf Platz 20 zurückgereiht worden war und die meisten Experten die WM für Red Bull für gewonnen hielten, machte ich den Geisterfahrer – und wettete just in dem Moment auf Hamilton als Weltmeister.
Weil ich Hamilton und Wolff seit Jahrzehnten kenne und es für mich klar war: Diese Strafe nehmen sie jetzt (selbst wenn sie juristisch korrekt gewesen sein dürfte) persönlich.
Und jetzt wird Hamilton Frust in Flow verwandeln und alles, absolut alles, aus sich herausholen.
Prompt hatte er das beste Rennwochenende seines Lebens und gewann (wenn man beide Strafen zusammenrechnet) von einem virtuellen 25. (!) Startplatz souverän. Er ist einfach jetzt schon der Jahrhundert-Athlet, der in manchen Situationen über den Dingen steht. Verstappen wird eines Tages diesen Status auch haben, und er hat Zeit dafür. Erst im August 2033 wird er so alt sein, wie Lewis es jetzt ist. Unvorstellbar, was Max noch alles erreichen kann. Doch jetzt und in dieser Woche kämpft er gegen den vielleicht besten Lewis Hamilton aller Zeiten.

3.Red Bull hat(te?) das bessere Auto.
Man muss den Ingenieuren in Milton Keynes rund um (den heuer langzeitverletzten) Adrian Newey wirklich Respekt zollen – und auch Honda. Das technische Paket Red Bull und Honda war heuer sicher in 2/3 der Rennen schneller und besser. Und konstanter. Red Bull ist nie weit weg, Mercedes manchmal schon. Der 2021er-Mercedes ist eine Diva, in einem Fenster perfekt funktioniert – aber dieses Fenster ist so schmal, dass alles schnell langsam sein kann. Ein paar Grad auf oder ab hier, ein etwas anderer Asphalt, ein Windhauch – und relativ schnell ist der schwarze Silberpfeil entblößt. Nur: Wie so oft in den letzten Jahren wird Mercedes gegen Ende der Saison immer besser – interessanterweise eine Parallele zu den besten Red-Bull-Jahren unter Vettel, in denen man meist auch erst im Herbst so richtig dominant wurde.

4. Mercedes hat den besseren Teamchef.
Sorry nach Milton Keynes, aber das ist eindeutig. Mit dem Selbstbewusstsein von sieben Titeln in Serie trifft man in Brackley die fokussierten und besseren Entscheidungen (freilich nicht immer die richtigen). Aber Dinge wie in den Tagen nach Silverstone, als Christian Horner unbedingt die Renn-Situation in einem absurden Versuch mit Alex Albon als Lewis Hamilton nachstellen wollte und man dabei einen kompletten Filming Day verplemperte, sind einfach unprofessionell. Ebenso Horners mangelnder Respekt gegenüber Hamilton.
In Saudi Arabien sagte er, "dass Hamiltons schnelle Zeiten in den Sektoren 2 und 3 nichts wert sei, weil jeder geradeaus fahren könne". Das sind Aussagen, die einer solch große Marke wie Red Bull nicht würdig sind. Horner ist ein ständiger Unruheherd, der sich permanent im Ton vergreift und auch von der Außenwirkung her nicht dem internationalen Red-Bull-Style entspricht. Man merkt, dass er im Rennstall seines Vater groß geworden ist – in einem Team alter englischer Schule, in dem Teambosse vom Schlag eines Tom Walkinshaw den Ton angaben.

5. Red  Bull hat mehr Druck.
Horners Unruhe ist aber menschlich verständlich. Für Red Bull Racing könnte es die Alles-oder-nichts-Saison sein. Man steht in der Schuld von Dietrich Mateschitz, der sich aus dem Tagesgeschäft auf angenehme Weise heraushält, keine Hire-and-Fire-Politik betreibt und der auch in den schwächeren Jahren von Red Bull Racing dem Team und der Formel 1 mehr als nur die Treue gehalten hat. Dafür wurde ihm für 2020 intern versprochen, dass man Verstappen zum jüngsten Weltmeister aller Zeiten machen würde. Bei den Tests war man sich quasi sicher, dass es klappen würde – doch dann kam die Corona-Pause und ausgerechnet daheim in Spielberg war man 2020 dann weit, weit hinter den eigenen Erwartungen. Und weit hinter Mercedes. Die Meisterschaft war quasi schon nach dem ersten Rennwochenende gelaufen.
2021 hat Adrian Newey mit seinem Team tatsächlich ein Top-Auto hingebaut – das klar Schnellste der ersten Phase. Alles wurde dem Jahr 2021 untergeordnet: Man will Erzfeind Mercedes noch in dieser Regel-Generation stürzen, man will Honda als fairem Partner dieses Abschiedsgeschenk machen, um jeden Preis. Selbst wenn dabei – wie manche unken – die Entwicklung für 2022 aus dem Auge geraten könnte.
Umso bitterer wäre es am Montag, den 13. ohne Titel zum Chef Mateschitz kommen zu müssen. Auch in der Team-WM schaut es nicht gut aus, nicht zuletzt da Sergio Perez weit unter den Erwartungen geblieben ist.
Verliert Red Bull Racing nun (auch) den sicher geglaubten Fahrer-WM-Titel, wird es bei Red Bull eine umfassende Analyse geben. Und die Fakten sprechen nicht gerade für den Teamchef.

6. Red Bull hat bei Honda ganze Arbeit geleistet.
Bei all der Kritik am Auftreten von Red Bull muss eines dringend lobend erwähnt werden. Es ist absolut sensationell, wie gut sich die Zusammenarbeit mit Honda entwickelt hat – und, nein, der Hamilton-"Wundermotor" in Sao Paulo ändert nichts daran.
Red Bull hat an Honda geglaubt, als es eine weltweite Lachnummer war, von Fernando Alonso und McLaren gedemütigt. Die Sauber-Teamchefin Monisha Kaltenborn musste unter anderem deshalb gehen, weil es die Investoren des Teams so absurd fanden, dass sie mit Honda kooperieren wollte.
Red Bull hat es dann getan – und das mit Stil. Die Vorbereitungsphase mit dem Team des Japan-Kenners Franz Tost, die intensive Kommunikation auf Augenhöhe von Tost und Marko mit den Japanern, man kann nur Respekt davor haben, wie sich Red Bull gegenüber Honda verhalten hat. Und Honda hat geliefert. Und wird das in Zukunft, wenn auch dann eher inoffiziell, auch tun. Auch weil Red Bulls Gesten der Freundschaft – man erinnere sich an das weiße Auto in Istanbul – Stil hatten.

7. Red Bull macht exzellente Nachwuchsarbeit.
Dr. Helmut Marko war mit seinem Juniorenteam noch nie so erfolgreich wie heuer – von Liam Lawson bis Dennis Hauger oder Jack Doohan sorgen junge Piloten für Aufsehen. Nur bei Yuki Tsunoda war es wohl zu früh, ihn in die Formel 1 zu werfen – und es war auch nicht geschickt, ihn schon vor dem ersten Rennen selbst mit Red Bull Racing in Verbindung zu bringen. Zum Glück hat man Pierre Gasly behalten, er ist sicher einer der Fahrer der Saison. 2022 werden acht von 20 Piloten ehemalige Red-Bull-Junioren sein, eine exzellente Bilanz.

8. Max Verstappen ist von einem Dreieck der Unruhe eingekreist.
Unglaublich, aber Verstappen könnte vom Alter her auch noch ein Junior sein. Er ist erst ein paar Monate älter als es Lewis Hamilton bei seinem Formel-1-Debüt war. Und trotzdem gibt es aktuell einen enormen Unterschied: Hamilton ist der Herr in seiner Box. Max hat mit seinem Vater Jos, einem Choleriker, mit Helmut Marko und mit Christian Horner gleich drei Personen um sich, die ihn bis aufs Blut verteidigen und ihn aber zugleich permanent mit Unruhe konfrontieren. Umso sensationeller ist es, dass Max weitgehend cool bleibt, zumindest in seinen Aussagen vor und nach dem Rennen.

9. Verstappen ist am und über dem Limit.
Helmut Marko, den man aus sehr vielen Gründen sehr schätzen muss, der das Team zu einem Top-Team geformt hat und der Entwicklungen in der Formel 1 extrem früh erkennt, hat sich im Titelkampf etwas verrannt. Seit Silverstone ist er – wie Horner – im Daueropfer-Modus, die Interviews nach misslungenen Rennen beginnen immer mit der Fehlersuche bei anderen. Sonntag wollte er noch Fakten sammeln gehen. Dass diese Fakten anhand der Telemetrie eindeutig waren (Verstappen hatte eine Bremsverzögerung von - 2,4 g, er hat definitiv unverhältnismäßig stark gebremst), geht dann meist unter. Ärgerlich: Wedert Red Bull noch der Formel-1-Visionär Marko haben so einen Opfer-Modus nötig. Zumal man in Saudi Arabien ja auch nicht vergessen sollte, dass der erste – umstrittene – Abbruch – Verstappen geholfen hatte, und zwar sehr. Übrigens wegen einer Red-Flag-Reifenwechsel-Regel, die dringend mal adaptiert werden sollte.

10. Der Fall Verstappen.
Es ist gar nicht möglich, Max Verstappen nicht zu verehren. Er ist ein Jahrhundert-Talent, schon das zweite in diesem Jahrhundert nach Hamilton. Aber er fährt brutal an der Grenze und darüber. Das ist abgezockt und toll zum Zusehen, aber auch gefährlich. Er spielt Spielchen auf höchstem und zugleich tiefstem Niveau. Auch wenn sich so mancher Experte wunderte, warum ihn Hamilton nicht gleich im ersten Versuch überholte, war es klar, warum er es nicht tat: An dieser Stelle hätte er ihn zwar überholt, aber Verstappen hätte ihn mit DRS-Vorteil nach Sekunden wieder "gefressen". Nur weil Red Bull mit dem Rennleiter einen (aus ihrer Sicht genialen) Deal macht, heißt das noch lange nicht, dass Mercedes da mitmachen muss. Wie es auch verwundert, dass Red Bull und die FIA über Funk über eine Strafe verhandeln ("Wir nehmen Platz drei, wenn ihr Ocon vor Hamilton stellt") – probieren Sie das mal beim nächsten Polizisten, der Ihnen über den Weg läuft.

11. Die Erkenntnis: Alles ist möglich – aber etwas gehört verboten.
Verstappen musste sich nach dem Rennen international viel Kritik anhören. Tenor: "Er fährt auf der Strecke genial wie einst Gilles Villeneuve – ohne sich an dessen Ethik-Regeln zu halten." Lewis Hamilton monierte, es gäbe unter den Fahrern unausgesprochene Verhaltensregeln, an die sich alle halten würden – "nur einer nicht". Und Charles Leclerc, definitiv neutral, hatte schon nach der Nicht-Bestrafung für Verstappen in Brasilien gemeint: "Wenn das durchgeht, werde auch ich meinen Stil in Zweikämpfen ändern."
Und Damon Hill, selbst einmal Opfer von Michael Schumacher in einem wichtigen Rennen, regt deshalb an, dass die Rennleitung schon vor dem Finale in Abu Dhabi in die Offensive geht: "Es muss klargestellt werden, dass man für das Verursachen eines Unfalls auch mit Punkteabzug bestraft werden kann." Ist das nicht klar geregelt, würde Verstappen bei einem Crash mit Hamilton zwar vielleicht mit Schimpf und Schande bestraft werden, aber mit dem WM-Titel belohnt werden.


Aber so kann es ein großes Finale werden. Und wenn Red Bull und Verstappen unter all diesen Umständen am Ende mehr Punkte haben als Hamilton, dann steht es außer Frage: Max Verstappen ist ein verdienter Weltmeister. So wie das auch umgekehrt für Lewis Hamilton gilt.

Sonntag Abend erleben wir ein Finale, das wir wohl nie mehr vergessen werden. Nach einem Duell zweier Giganten.
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